John Locke‘s Two Tracts und das anarchische Potential religiösen Gewissens
Paul Bou-Habib, Universität von Essex, GB
Zusammenfassung
Dieser Artikel rekonstruiert die wesentlichen Argumente in John Locke’s ersten politischen Schriften:
Die „Two Tracts of Government (1660 – 1662)“ sind überaus auf Vortrag ausgerichtet, pflegen einen in diesem Sinne rhetorischen Stil und sind an sehr vielen Stellen undurchschaubar. Die Tracts haben den Zweck, das Recht der Regierung zu festigen, der eigenen Bevölkerung Vorschriften betreffend deren öffentlicher Religionsausübung zu machen. Eine durchaus erstaunliche Feststellung, angesichts Locke’s weltberühmter Verteidigung religiöser Toleranz in seinen späteren Schriften.
Dieser Artikel rekonstruiert die wesentlichen Argumente in John Locke’s ersten politischen Schriften:
Die „Two Tracts of Government (1660 – 1662)“ sind überaus auf Vortrag ausgerichtet, pflegen einen in diesem Sinne rhetorischen Stil und sind an sehr vielen Stellen schleierhaft. Die Tracts haben den Zweck, das Recht der Regierung zu festigen, der eigenen Bevölkerung Vorschriften betreffend deren öffentlicher Religionsausübung zu machen. Eine durchaus erstaunliche Feststellung, angesichts Locke’s weltberühmter Verteidigung religiöser Toleranz in seinen späteren Schriften. Die Rekonstruktion der beiden Tracts, die hier vorgenommen wird, ermöglichst uns eine andere Sichtweise. Es war vielmehr eine klar pessimistische Erwartung bezüglich Fortschritt und Frieden unter der Voraussetzung umfassender religiöser Toleranz, die den jungen Locke (damals 28 bis 30 Jahre alt) veranlasst, einem drängenden Bedürfnis nachzugehen, welches in der Verteidigung des obersten Vorrangs staatlichen Rechts gegen jegliche anarchische Konzeption religiöser Freiräume besteht. Der vorliegende Artikel betont die Entwicklung von Locke’s Denken bezüglich religiöser Freiräume, welches recht weitgehend durch Locke’s Versuch gesteuert wurde, religiösen Freiraum grundsätzlich dahingehend auszulegen, dass dessen anarchische Implikationen vermieden würden.
Schlagworte
Locke, religious freedom, anarchy, Two Tracts on Government, religiöse Freiheit, Anarchie, Zwei Aufsätze über das Regieren
Einführung
1656, als Locke noch ein sehr junger Mann war, schrieb er aus London einen Brief an seinen Vater, deren Bericht er so begann: „Die augenfälligste Begebenheit, die ich erlebte, seit ich hierher kam“. Locke war Prozessbeobachter, als ein Quäker vor dem Gerichtshof in Westminster Hall auf Entschädigung klagte, weil man ihm einige Monate zuvor den Hut vom Kopf geschlagen hatte, als er als Zeuge vor dieses Gericht geladen wurde. Bei dieser früheren Begebenheit hatte der Mann sich geweigert, vor Gericht seinen Hut abzunehmen, was der Sitte der Quäker entsprach, die überzeugt waren, dass seit Christus alle Menschen gleich seien. Locke fällt auf und schilderte seinem Vater, dass der Mann aus Protest gegen die vorherige Misshandlung seinen Hut gar nicht mehr trug. Locke fährt fort: „Der Rest seiner Glaubensbrüder täte gut daran, ihn nachzuahmen, weil den Kopf zu heiß zu halten ist für Verrückte gefährlich.“
Locke’s Haltung gegenüber den Quäkern mag klar die Vorurteile eines hinterwäldlerischen jungen Mannes widerspiegeln, der mit Leuten aus einem anderen religiösen Umfeld als seinem eigenen konfrontiert wird. Sie könnte aber auch das mulmige Gefühl wegen der Anarchie reflektieren, die seitens religiöser Gruppierungen drohte, welche sich ausschließlich auf ihr religiöses Gewissen berufen, ohne, wie Locke es voraussetzte, der Verstand zum Maßstab zu machen. Locke dürfte die Quäker nicht einfach nur als Spinner betrachtet haben, sondern als gefährliche Spinner. Dieser Artikel geht der These nach, dass es die Befürchtung anarchischer Zustände wegen der Berufung auf die religiösen Gewissen war, die Locke zu seinen ersten politischen Schriften veranlasst hat, welche er vier Jahre nach seinem zuvor genannten Brief an seinen Vater unter dem Titel „Two Tracts on Government (1660 – 1662)“ verfasste. Locke schrieb die Tracts als Antwort auf „Die große Frage betreffend die unbestimmten Angelegenheiten (die Religion betreffend) (1660)“, ein Pamphlet eines seiner Kommilitonen in Oxford, Edward Bagshaw2.
Bagshaw vertritt in seinem Pamphlet, dass eine Regierung keinerlei Recht hat, der Bevölkerung bezüglich der Ausübung religiöser Huldigung irgendwelche Vorschriften zu machen. Die in Frage stehende Verfügung über religiöse Huldigung bestand bezüglich der Form, der die Regierung bei einzelnen religiösen Zeremonien Geltung innerhalb der Kirche verschaffen wollte: Die Kleidung, die der Klerus zu tragen habe und andere Begleitumstände und Attribute religiöser Huldigung. Selbst wenn Locke bekanntlich in seinen späteren Schriftgen zu dem Ergebnis kommt, das Recht der Regierung, über religiöse Huldigung Verfolgungen zu treffen, zu verneinen: In den Tracts verteidigt er dieses Recht3.
Unterstellt man die vorgeschlagene Lesart der Tracts, so zielt dieser Artikel darauf ab, drei unterschiedliche Beiträge zu unserem Verständnis von John Lockes politischem Denken zu leisten. Der erste besteht darin, klare Argumente aus einer Schrift zu gewinnen, der sich an vielen Stellen als hochgradig rhetorischer, bruchstückhafter und rätselhafter Text präsentiert. Die Herangehensweise des Artikels weicht daher, obwohl ergänzend, von einer mehr historischen der Interpretation eines politischen Textes ab, da das Ziel darin besteht, die Absichten des Autors auf dem Wege einer sorgfältigen Ausleuchtung der Bedeutung des Textes aus dem Kontext zu erhellen. Der Schwerpunkt liegt in diesem Artikel liegt darin, die Lücken in Locke’s eigener Präsentation seiner Argumente zu füllen, indem die fehlenden Prämissen so ergänzt werden, dass wir in die Lage versetzt werden, die eindeutige Natur dieser Argumente zu erkennen.
Zum zweiten bekräftigt dieser Artikel eine deutlich stärker kategorisierende Zuordnung von einer der beiden eng verknüpften Argumentationen, von denen man behaupten könnte, Locke habe sie in den Tracts verfolgt. Einerseits könnte man die Tracts als Spiegelung einer entschiedenen politischen Position lesen, einer, die das Recht der Regierung verteidigt, religiöse Einheitlichkeit vorzuschreiben, weil sie zu dem Schluss kommt, religiöse Uniformität sei unerlässlich für die öffentliche Ordnung. Während diese Interpretation der Tracts hin und wieder in den Arbeiten von Robert Kraynak, Kirstie McLure und David Wootton nahegelegt wird, regt ebenjene reichhaltige Quelle der Entwicklung von Locke’s Sichtweise religiöser Toleranz ebenfalls eine sich deutlich abhebende Ausdeutung der Tracts an, wie sie in diesem Artikel vorgeschlagen wird4.
Gemäß dieser jüngeren Deutung, ist Lock ein erster Linie vor allem besorgt darüber, was Bagshaw, wie Locke glaubt, impliziert, indem er das Recht der Regierung zurückweist, über die Formen religiöser Huldigung zu verfügen: Nämlich, dass die Gewissensentscheidung eines jeden Sektierers über der Autorität des Souveräns steht. Mit anderen Worten: Locke will das Recht der Regierung zu Verfügungen (in religiösen Angelegenheiten) nicht deshalb verteidigen, weil er die Verfügungsbefugnis an sich für prinzipiell höherrangig hielt, sondern weil er strikt verneint, dass das religiöse Gewissen von Abweichlern irgend eine Autorität haben könnte, die die Autorität des Souveräns beschränken könnte.
Das zweite Ziel dieses Artikels besteht darin, die Sekundärliteratur zu ermutigen diese jüngere Argumentation, welche sich auf die Notwendigkeit des Erhalts der Autorität des Souveräns fokussiert, gegenüber der Vordergründigkeit von Locke’s in den Tracts formulierten Bedenken zu fördern. Schlussendlich unterstützt dieser Artikel ebenfalls eine eigenständige Sichtweise über die über allem schwebenden Gedanken Locke’s über das Subjekt, indem er vorschlägt, dass wir den Schwerpunkt unserer Interpretation der frühen Schriften Locke’s verlagern.
Sollte Lockes Frühwerk tatsächlich Hobbessche Charakterzüge aufweisen, da es den Schwerpunkt auf die Notwendigkeit einer souveränen Autorität legt, dann müsste ein markanter Wendepunkt seiner Entwicklung zu dem berühmten anti-hobbesschen politischen Denken in seinem späteren Werk folgendermaßen aussehen: Er muss dann in seinem späteren Werk eine deutlich andere Konzeption des religiösen Freiraums entwickelt haben als die Bagshaws, eine solche, die nicht anarchisch geprägt war und die eine Gesellschaft mit verschiedenen Religionen erlaubt hat, die durch Recht und Gesetz geregelt werden konnte. Der Artikel schließt deshalb mit einem kurzen Vorschlag, über die Beschaffenheit von Locke‘s alternativer Konzeption religiöser Freiräume.
Die große Frage
Um Locke’s Argumentation für das Recht der Regierung über religiöse Huldigung Verfügungen zu treffen korrekt zu verstehen, haben wir im Vorfeld die Frage zu klären, um die es in seinem und in Bagshaws Texten geht. Die Fragestellung, die Locke seinen Tracts als Titel voranstellt, ist identisch mit dem Aufmacher des Pamphlets, auf das Locke antwortet:
Darf eine bürgerliche Obrigkeit rechtmäßig Verfügungen und Entscheidungen bezüglich der Ausübung unbestimmter Gegebenheiten betreffend religiöse Huldigung treffen?
Bei unbestimmten Angelegenheiten handelt es sich um jene Handlungen, die Gott menschlichem Ermessen überlassen hat. Ob eine Obrigkeit rechtmäßiger weise über derlei Aktivitäten verfügen oder sie festlegen darf, ist im Kern die Frage, ob er Forderungen stellen, verbieten oder anderweitig Regelungen darüber treffen darf, ohne sein politisches Mandat zu überschreiten5.
Gegenstand der Fragestellung zwischen Locke und Bagshaw ist also, ob die Regierung sich innerhalb ihres Mandats bewegt, wenn sie Forderungen stellt, Verbote erlässt oder gar direkt Handlungen zur religiösen Huldigung bestimmt, die Gott nicht bereits in irgend einer Weise festgelegt hat.
Der besseren Übersichtlichkeit zuliebe wollen wir das die “Frage, ob die Regierung ein Recht auf Verfügungen hat”, nennen. Locke’s Verteidigung der Ansicht, dass eine Regierung das Recht auf Verfügungen hat, erfolgt in zwei Abschnitten. Zuerst vertritt er das Erfordernis, dass die öffentliche Ordnung die Übertragung aller Freiheit im Bereich der unbestimmten Handlungen durch die Individuen zu Gunsten der Autorität des Souveräns erfolgen muss.
Da unbestimmte Handlungen bei der religiösen Huldigung keineswegs mehr unbestimmt sind, sobald sie zum Zwecke der religiösen Huldigung durchgeführt werden, müssen diese genauso unter die Autorität des Souveräns fallen, als das bei unbestimmten Handlungen der Fall ist, die außerhalb einer religiösen Huldigung durchgeführt werden. Daher darf die Regierung rechtmäßig, das bedeutet, sie hat die Autorität dazu, unbestimmte Handlungen zur religiösen Huldigung festlegen.
Teil der Locke’schen Argumentation besteht in einer Reihe von Widerlegungen verschiedener einzelner Argumente der Gegenseite, die Bagshaw vorträgt. Alle Argumente Bagshaws zielen darauf ab zu zeigen, dass Individuen, während sie kein Recht haben mögen, frei von der Regulierung bislang unbestimmter Handlungen in der bürgerlichen Sphäre zu sein, indessen sehr wohl ein Recht haben, von jeglicher solcher Bevormundung im religiösen Bereich frei zu sein. Locke weist diesen Ansatz zurück, eine Trennlinie zwischen bürgerlichen und religiösen unbestimmten Handlungen zu ziehen.
Wir können zwei mögliche Lesarten der bejahenden Antwort auf die Frage unterscheiden, die Locke in den Tracts aufwirft. Beide Lesarten stimmen dahingehend überein, dass die ultimative Grundlage Locke’s Argumentation darin besteht, dass Individuen eine Pflicht haben, die öffentliche Ordnung aufrecht zu erhalten. Wenn er schreibt ‘Gott wünschte, dass Ordnung, Gesellschaft und Regierung sei zwischen den Menschen’6, dürfen wir davon ausgehen, dass Locke fest daran glaubt, Gottes Wünsche seien Pflichten, die alle Individuen erfüllen müssen.
Der Punkt an dem die beiden Lesarten sich unterscheiden, besteht in der zwischengelagerten Idee, die diese grundlegende Pflicht die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten mit der Schlussfolgerung verbindet, dass die Individuen keinerlei Rechte gegen Verfügungen bezüglich der Religionsausübung haben. Gemäß der einen Lesart läge der Grund, warum Locke überzeugt sei, dass die Pflicht die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten ein Verfügungsrecht des Souveräns nach sich ziehen müsse, darin, dass er glaubt, öffentliche Ordnung erfordere, dass Individuen auch eine einheitliche Form, der religiösen Huldigung praktizieren. Nach dieser Lesart fallen die Tracts schwer auf eine soziologische Hypothese über die gesellschaftlichen Konsequenzen religiöser Vielfalt zurück, nach der religiöse Vielfalt notwendigerweise soziale Konflikte herbeiführt.
Gemäß einer zweiten Lesart, glaubt Locke dass bereits die öffentliche Ordnung selbst das Verfügungsrecht des Souveräns rechtfertigt, da öffentliche Ordnung unbedingt Autorität des Souveräns erfordert, wobei Autorität des Souveräns unmöglich ist, wenn Individuen das Recht haben Verfügungen über religiöse Belange zurückzuweisen, zumindest in der Form wie Bagshaw dieses Recht versteht. Eine umfassende Stellungnahme zu dieser zweiten Lesart erfolgt später, sobald Bagshaw’s Verständnis des Widerstandsrechts gegen Vorschriften in religiösen Angelegenheiten erläutert wurde. Für den Moment wollen wir notieren, was für die zweite Lesart der Tracts wesentlich ist: Nämlich, dass es Locke eine gewisse Beharrlichkeit dabei zuschreibt, eine eigenständige Konzeption religiöser Freiheit im Namen des Erhalts der Autorität des Souveräns zurückzuweisen.
Diese beiden Lesarten lassen verschiedene Wege von der grundlegenden Pflicht, die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten hin zu einem Verfügungsrecht des Souveräns erkennen. Den ersten via Notwendigkeit religiöser Einheitlichkeit, den zweiten via Notwendigkeit der Autorität des Souveräns. Diese beiden Pfade sind klar verschieden: Es schreibt den Tracts einen eigenen Zweck zu, zu behaupten, die Individuen müssten eine religiöse Uniformität verwirklichen und einen völlig anderen, zu behaupten, die Individuen müssten für die Bewahrung der Autorität des Souveräns sorgen. Die nächsten beiden Abschnitte diskutieren die Wahrscheinlichkeit einer jeden Lesart der Tracts.
Argumentation via Uniformität
Es besteht eine Tendenz in der Sekundärliteratur, Locke’s Bedenklichkeit in den Tracts so darzustellen, als wäre sie auf die Notwendigkeit religiöser Einheitlichkeit fokussiert. Die interpretatorische Idee dahinter besteht darin, dass Locke glaubte, religiöse Vielfalt in der Öffentlichkeit müsse verhindert werden, da sie mit dem Entfachen gewaltsamer Konfrontationen zwischen verschiedenen religiösen Gruppen verknüpft ist. Ich werde mich darauf als Argumentation via Uniformität nach dem nachfolgenden, zusammenfassenden Schema beziehen:
- Gott ordnet an, dass öffentliche Ordnung zu bestehen hat.
- Öffentliche Ordnung erfordert religiöse Einheitlichkeit
- Deshalb muss der Souverän ein Verfügungsrecht haben.
Dass Locke diese Argumentation via Uniformität vorbringt, ist eine Sichtweise, die manchmal mehr, manchmal weniger ausdrücklich in der Sekundärliteratur zu den Tracts vorgetragen wird. Robert Kraynak zum Beispiel verteidigt die These, Locke nehme ‘eine definitive pragmatische Position zu Gunsten eines absolutistischen Verfügungsrechts ein’, Kraynak meint damit die Politik, durch die der Staat ‘willkürliche Einheitlichkeit verfügt, als Waffe gegen Sektierer um des Friedens willen’7.
David Wootton, der andere Bestandteile der Analyse der Tracts durch Kraynaks zurückweist, stimmt mit ihm in diesem Punkt überein.
Kirstie McClure führt aus, dass ein Unterschied zwischen ‘Verfügung über religiöse Gegebenheiten in Ausübung einer rechtmäßigen, bürgerlichen Macht’ und ‘einer politischen Option von mehreren’ besteht. Sie betont weiter, das Locke Verfügung als ‘kluge Handlungsweise politische Sachverhalte betreffend’9 Erwogen hat.
Selbst wenn also die Argumentation via Uniformität Locke als gutes Geschäft Dreh in der Sekundärliteratur untergeschoben wird, bleibt die Schwierigkeit dieser Ausdeutung nach wie vor die, dass Locke nirgends auch nur eine ausdrückliche Aussage in den Tracts tätigt, die für den zweiten Schritt in obigem Schema sprechen würde, welche die Argumentation via Einheitlichkeit von der Argumentation via Autorität unterscheiden würde, also dem Wortsinn getreu, dass öffentliche Ordnung religiöse Einheitlichkeit erfordert.
Ferner ist der angeführte Nachweis zu Gunsten einer „Einschlusstheorie“ für diesen zweiten Schritt durch Locke nicht überzeugend. Ein ganzer Satz von Aussagen, die einen derartigen Einschluss auf Locke’s Seite suggerieren, weist vollständig und über verschiedene Pfade darauf hin, dass in einer Gesellschaft eine oberste Autorität über allen unbestimmten Handlungen existieren sollte, eine Autorität, die fest steht, die beschließt, welche aller denkbaren Handlungen, die Gott dem menschlichen Ermessen überlassen hat, geregelt werden sollten und wie sie geregelt werden sollten.
Robert Kraynak hält aussagen dieser Art für eine Stütze der Lesart, nach der Locke die Argumentation via Einheitlichkeit unbewusst mitträgt. Er zitiert zum Beispiel die folgende Passage:
‘Die Nachteile einer Regierung’, sagt Locke, ‘sind deutlich geringer, als sie denn zu finden wären, falls eine solche fehlte, da dann kein Frieden, keine Sicherheit, keine Freude am Leben, Feindschaft unter allen Menschen und der sichere Besitz von gar nichts zu finden wären’. Mit ‘Absolutismus’ meint Kraynak die Lehre, mittels der die Regierung ‘willkürlich Einheitlichkeit als Waffe gegen Sektierer verfügt’.
In dem soeben zitierten Absatz entsteht tatsächliche der Eindruck, Locke transportiere klammheimlich die Ansicht mit, dass in einer Gesellschaft eine souveräne Autorität existieren solle – doch dass er diese Sicht einschließt, impliziert nicht, er schließe damit auch die weitere Sicht ein, der Souverän solle religiöse Einheitlichkeit verfügen.
Ein zweiter Satz suggestiver Statements in den Tracts sagt aus, wir sollten weder ‘Gewissensfreiheit’ noch ‘Recht auf Toleranz’ anerkennen, da sich solche Privilegien hervorragend für das Entstehen gefährlicher gesellschaftlicher Folgeerscheinungen eignen. Locke beschreibt, als Beispiel, dass eine Freiheit zur Ausführung vollkommen eigener Handlungen im Rahmen religiöser Huldigung sich als eine ‘Freiheit zu Streit, Redeverbot und Verfolgung erweise und uns der Tyrannei religiöser Raserei aussetze’.
Eine unmittelbare Reaktion auf solche Aussagen ist Verblüffung: Es ist extrem schwierig zu erkennen, warum Locke denken könnte, dass Religionsfreiheit unvermeidbar zu religiöser Tyrannei führt. Weshalb genau denkt Locke, solche Konsequenzen würden sich durchsetzen, falls die Regierung den Individuen den Freiraum garantiert, nach eigenem Dafürhalten zu huldigen? Folgt man Kraynak, besteht Locke’s Begründung für diese Sichtweise darin, sich Sektenführer in der Absicht auf Gewissensfreiheit berufen würden, ihre Anhänger zum Angriff auf religiöse Rivalen anzustacheln und die offizielle Religion des Staates zu reformieren. Selbst wenn wir als gegeben betrachten, dass Kraynak damit Recht hat, können solche Aussagen noch immer nicht schlüssig die These stützen, Locke transportiere die Argumentation via Uniformität unbewusst mit. Wäre Locke wirklich besorgt, Gewissensfreiheit erwiese sich als Freiheit, die zu sektiererischem Bürgerkrieg führe, muss das nicht implizieren, dass religiöse Einheitlichkeit als Alternative zur Gewissensfreiheit in seinen Thesen mitschwingt.
Es könnte stattdessen implizieren, dass er die Autorität des Souveräns als Alternative unbewusst mitbringt.
Diese Erklärung hat das Zeug, wie auch immer, insoweit irreführend zu sein, als sie suggeriert, dass Locke sich für die Verfügung entscheidet, da er sie für prinzipiell gleichermaßen rechtfertigungsfähig erachtet, wie Toleranz und unter den gegebenen Umständen für klüger. Doch es gibt einen alternativen Weg, Locke‘s Statement zu deuten. Sein Punkt könnte vielmehr folgender sein: Eben weil die Obrigkeit ohnehin stets mit der Tatsache verbunden ist, irgendjemandes Gewissen zu verletzen, dürfen wir die Legitimität der Gesetze der Obrigkeit keinesfalls unter dem Gesichtspunkt beurteilen, ob sie zufällig irgendjemandes Gewissen verletzen, schlicht, weil in dem Fall kein einziges Gesetz jemals rechtmäßig wäre. Mit anderen Worten, der Umstand, den Locke möglicherweise beklagt, besteht keineswegs darin, dass er keine Möglichkeit sieht, ein neutrales Recht zu schaffen, sondern darin, dass Menschen darauf bestehen, über die Rechtmäßigkeit von Gesetzen auf Basis von Kriterien zu entscheiden, ob diese gerade mit ihrem Gewissen vereinbar sind.
Unter dem Strich besteht ein ziemlichen Mangel an direkten Beweisen zu Gunsten der Auslegung, Locke würde eine Argumentation via Uniformität vorantreiben. Stellt man das Fehlen schlüssiger Beweise zu deren Gunsten in Rechnung, darf man sich wundern warum in der Sekundärliteratur eine Tendenz entstand, diese Argumentation via Uniformität überhaupt den Tracts in die Schuhe zu schieben. Möglicherweise lag der Fall so, dass zu eilfertig angenommen wurde, es gäbe keinen anderen Weg, den suggestiven Aussagen Locke‘s Rechnung zu tragen. Der folgende Abschnitt geht dieser Annahme nach.
Argumentation via Autorität
Eine alternative Lesart der Tracts, und zwar eine, die als von den soeben zitierten Aussagen Locke’s suggeriert betrachtet werden kann, besteht in einer Lesart, die all dem passt, bezüglich dessen Locke eine Argumentation über die Autorität entwickelt. Diese Argumentation behauptet, öffentliche Ordnung erfordere, dass eine souveräne Autorität vorhanden sein müsse, die die Ausgestaltung der religiösen Huldigung in einer Gesellschaft bestimmt. Die Argumentation via Autorität übernimmt die gleiche fundamentale Prämisse und Schlussfolgerung wie die Argumentation via Uniformität. Wie den auch sei, sie verbindet die Schlussfolgerung aber mit einer anderen zwischengelagerten Idee:
- Gott ordnet an, dass öffentliche Ordnung zu bestehen hat
- a Öffentliche Ordnung erfordert souveräne Autorität.
- Deshalb gibt es kein Widerstandsrecht gegen Verfügung über religiöse Belange.
‘Souveräne Autorität’ ist eine Autorität, deren Gesetze keine andere Perron oder Institution als unrechtmäßig überstimmen kann und die, in diesem Sinne, final sind. Der Träger souveräner Autorität kann eine Person oder eine Versammlung von Personen sein und wird in jedem Fall als der ‘Souverän’ bezeichnet. Hier jetzt, wird Locke ausdrücklich, dass öffentliche Ordnung das Vorhandensein souveräner Autorität erfordert. Er schreibt:
‘Es ist klar, es kann keine Eintracht zwischen Menschen eintreten, keine gemeinsame Lebensweise wäre möglich, kein Gesetz, keinerlei Verfassung durch die Menschen eben das vermöchten, sich zu einem Körper zu vereinen, bevor sich nicht zuvor jeder einzelne eben jener angeborenen Freiheit begibt … und sie an jemand anderen überträgt … in dem notwendigerweise eine oberste Macht angelegt ist13’.
Wie oben zusammengefasst, ist die Argumentation via Autorität nicht vollkommen klar. Die notwendigerweise zu beantwortende Frage lautet, warum glaubt Locke eigentlich dass öffentliche Ordnung das Vorhandensein einer souveränen Autorität erfordert. Wir müssen mit anderen Worten verstehen, was genau den zweiten Schritt bei der Argumentation via Autorität rechtfertigt. Locke teilt uns das nicht ausdrücklich mit, in dem auf der Hand liegenden Glauben, dass die Antwort auf diese Frage offen vorliegen muss (das obige Zitat beginnt mit ‘es ist klar, dass’). Sofern wir nun das Argument via Autorität entfalten wollen, müssen wir dessentwegen die Annahme, die Locke als gesichert vorlegt, aus anderen Inhalten der Tracts rekonstruieren.
Die plausibelste Annahme wäre, dass Locke einer von Thomas Hobbes entnommen Linie folgt. Hobbes beharrt bekanntlich darauf, dass souveräne Autorität für die öffentliche Ordnung notwendig ist, weil ohne Anwesenheit eines obersten Schiedsrichters betreffend die Grenzen menschlicher Handlungen in der Gesellschaft, würden sich die Menschen unendlich wegen dieser Angelegenheit bekämpfen.
Dass in den Tracts eine derartige Sicht integriert ist, wird durch die vielen Kommentare Locke’s suggeriert, die er bezüglich der Tendenz von Auseinandersetzungen über religiöse Huldigung beisteuert, in physische Gewalt umzuschlagen. Wir können mit anderen Worten direkt sehen, wie Locke sich vorstellt, dass Menschen stets bereit sind, einen Kampf über die Frage der korrekten Huldigung Gottes auszutragen und dass die öffentliche Ordnung eben deswegen von Individuen abhängt, die ihre persönliche Autorität über die eigentliche Weise der religiösen Huldigung zu entscheiden an den Souverän abtreten. Unter dem Strich wären wir dann in der Lage, Lockes Argumentation via Autorität folgendermaßen auszubreiten:
2a. Öffentliche Ordnung erfordert souveräne Autorität, weil
(I) Menschen sich über die Grenzen des Handelns uneins sind und deshalb bereit sich deswegen zu bekämpfen
(II) Um den Krieg zu vermeiden, müssen sie deshalb ihre individuelle Autorität, die Grenzen ihres Handelns selbst zu bestimmen, an eine Person oder mehrere Personen übertragen, deren Urteil in der strittigen Angelegenheit endgültig ist.
Wenn Locke zum Beispiel vor den widerwärtigen Folgeerscheinungen der Anerkennung von Gewissensfreiheit warnt, könnte er damit ebenso gut zum Ausdruck bringen wollen, dass er davon überzeugt ist, die Obrigkeit müsse, als Souverän, der finale Richter darüber sein, welche Gesetze wir haben sollten und nicht etwa das Gewissen einzelner Individuen. Auf der anderen Hand aber ist es ebenso gut möglich, dass Locke behaupten will, es sei unklug der Bevölkerung unterschiedliche Formen religiöser Huldigung unter Umständen zu erlauben, unter welchen ihr Handeln mit dem Aufkommen bürgerlicher Unruhen verknüpft ist. Sofern wir schlüssige Beweise betreffend die Natur der Locke’schen Argumentation in den Tracts finden wollen, bleibt uns nichts anderes übrig, als den zweiten Teil seines Anliegens zu Gunsten des Rechts einer Regierung, Verfügungen zu erlassen, zu untersuchen. Namentlich die Reihe von Widerlegungen, die er Bagshaw‘s verschiedenen Argumenten entgegenstellt.
Der Schlagabtausch Locke–Bagshaw
Bagshaw’s Anliegen gegen ein Verfügungsrecht der Regierung beruht auf dem Erfordernis, Gott habe den Individuen angeordnet, ihm eine ernsthafte Huldigung entgegenzubringen. Mit ‘ernsthafter Huldigung’ meint Bagshaw nicht einfach nur, einen ernsthaften Glauben an Gott zu besitzen, sondern auch die Erbringung ausschließlich der äußerlichen Handlungen, die der jeweilige als für die Huldigung notwendig erachtet. Er glaubt fest, falls, Individuen eine so verstandene Pflicht zur Huldigung haben, dann muss es sich wahrhaftig so verhalten, dass eine Regierung niemals ein Verfügungsrecht haben Ihnen die Huldigung (wie auch immer, was auch immer) vorzuschreiben. Bagshaws Hauptforderung bringt eine besorgniserregende Implikation mit sich, die, warum auch immer, Bagshaw selbst übersieht. Falls Individuen eine Pflicht zu ernsthaften, religiösen Handlungen haben, dann dürfen sie ihre individuelle Autorität deshalb an überhaupt keinen Souverän übertragen, um über ihren Handlungsspielraum zu bestimmen. Bagshaw’s Forderung enthält dadurch die Implikation, dass es überhaupt keine souveräne Autorität geben kann.
Dass es eben diese Implikation ist, die Locke’s Besorgnis erregt wird klar und deutlich, wenn wir uns einige seiner Dispute mit Bagshaw ansehen. Zunächst zu erwägen ist die Deutung Bagshaw’s betreffend eine spezielle Passage der Heiligen Schrift, die angenommener weise die These des Verbots der Verfügung über religiöse Huldigung stützt. Die Passage aus dem Brief des Paulus an die Galater, ordnet den Christen an, ‘fest auf der Freiheit zu beharren, zu der Christus sie befreit hat und nicht erneut in das Joch der Knechtschaft verstrickt zu werden’ (Galater 5.1).
Bagshaw stellt es so dar, als wäre Paulus Begründung die Verfügung von Zeremonien zurückzuweisen, ebenfalls eine Begründung für die uns beschäftigende aktuelle Zurückweisung der Verfügung über christliche Zeremonien, namentlich, dass Individuen eine ‘Christliche Freiheit’ zugestanden werden muss, eben genau die Zeremonien auszuführen, an die sie selbst als notwendig glauben. Bagshaw besteht darauf, es liege deshalb der Irrtum vor zu denken, dass, als Paulus damals jenes ‘Joch der Knechtschaft’ angesprochen hat, mit dem er sich spezifisch auf die Beibehaltung jüdischer Zeremonien bezog, er eben nicht nur auf den Verzicht auf jüdische Zeremonien, sondern auf den auf christliche drängte. Paul drängte auf Freiheit von allen Zeremonien.
Locke erhebt einen feinsinnigen Einwand gegen Bagshaw’s Interpretation der Worte des Paulus. Die ‘christliche Freiheit’ auf der Paulus besteht ist lediglich eine ‘Beurteilungsfreiheit’ und nicht, wie Bagshaw denkt, eine ‘Handlungsfreiheit’. Entgegen der Ansicht Bagshaw’s dürften daher Paulus Worte nicht verwendet werden, um die Verfügung über Zeremonien generell zu verbieten, sondern nur jene Zeremonien betreffend, die verfügt werden, um Menschen in einer bestimmten Art und Weise urteilen zu lassen. Sofern eine Regierung also Zeremonien vorschreibt, die lediglich die Menschen dazu bringen sollen, sich in einer bestimmten Weise zu verhalten, dann geht es nicht darum, den Menschen anzuordnen diese Zeremonien als aus sich selbst heraus notwendig einzubeziehen und auf diese Weise bleibt die Freiheit jeder Person, diese Frage für sich zu entscheiden, bleibt unberührt. Kurz gesagt: Locke glaubt, Bagshaw entnehme eine viel zu weit reichende Religionsfreiheit aus den Worten des Paulus.
Ein zweiter Streitpunkt mit Bagshaw, der Locke’s Bedenken wegen Bagshaw’s Beharren auf einer Pflicht zu ernsthaften religiösen Handlungen wiederspiegelt, betrifft die ‘Goldene Regel’, die anordnet, dass ‘man nicht einem anderen antun solle, was man sich nichts selbst angetan wünscht’. Die Goldene Regel anwendend stellt Bagshaw die Frage: ‘Wer wollte, dass über sein Gewissen verfügt werde?’ Niemand will das, antwortet er gleich selbst, und deshalb darf niemand Verfügungen über das Gewissen eines anderen treffen.
Wir kommen nicht umhin zur Kenntnis zu nehmen, dass Bagshaw mit diesem Argument Mutmaßungen anstellt. Damit seine Berufung auf die Goldene Regel als Argument gegen die Verfügung religiöser Zeremonien funktioniert, muss er unterstellen, dass die Verfügung einer Zeremonie für irgendjemand bereits eine Verfügung über dessen Gewissen darstellt – was bedeutet, um der Gewissensfreiheit einer Person zu genügen, muss diese Person jederzeit in der Lage sein, eine äußerliche Huldigung vornehmen zu können, die ihre innerliche Huldigung einschließt.
Nur dann könnte Bagshaw folgerichtig schließen, dass unser Verlangen, keine Verfügungen in unser Gewissen hinein hinnehmen zu müssen, uns via Goldener Regel verpflichtet, von der Verfügung von Zeremonien gegenüber anderen abzusehen. Kurz gesagt: Bagshaw muss unterstellen, dass eine vollkommene Freiheit des Gewissens auch die vollkommene Freiheit religiösen Handelns erfordert.
Locke beantwortet Bagshaw’s Berufung auf die Goldene Regel mit folgender Anmerkung: ‘Wären die Beurteilungen irgendwelcher privaten Leute die Formen, in denen Gesetze gegossen werden, dann wäre die Frage, ob wir überhaupt welche haben sollten’15.
Auf den ersten Blick mag es unklar erscheinen, wie Locke’s Antwort sich als Widerlegung der Argumentation Bagshaw’s via Goldenen regel auszahlt, abgesehen davon ob das überhaupt relevant ist. Warum glaubt Locke eigentlich, dass Bagshaw’s auf die Gewissensfreiheit notwendigerweise Bagshaw dazu verdammt, eine unbeschränkte Handlungsfreiheit auf Grundlage eines jeden eigenen Urteils einzuschließen?
Viel natürlicher erscheint es doch, Bagshaw’s Punkt wäre die Idee, Individuen sollten sich eines Freiraums bar jeglicher Einmischung innerhalb eines festgelegten Bereichs religiösen Verhaltens erfreuen. Erinner wir uns dabei erst einmal daran, wie auch immer, dass Bagshaw unterstellt, ein freies Gewissen impliziere das Vorhandensein einer umfassenden Freiheit zu ernsthaften religiösen Handlungen, dann wird Locke‘s Antwort klar. Erst dann, wenn die Gewissensfreiheit einmal auf diese Weise interpretiert wird, erhebt sie sich zu einer tatsächlichen Macht außerhalb von Recht und Gesetz, oder, mit anderen Worten: Zur persönlichen Prärogative, die jegliches Gesetz nach Gutdünken des eigenen Gewissens willkürlich begrenzen kann.
Sollten Gesetze tatsächlich auf diesem Weg beschränkt werden können, dann hätte Locke vollkommen Recht, wenn er spottet: ‘ob wir überhaupt welche haben sollten’. Dieser Punkt wird über die Tracts hinweg mehrfach wiederholt. Locke’s bevorzugte Schilderung dazu, die er mehr als einmal gebraucht, ist die des Quäkers. Die Tracts greifen dergestalt auf das für ihn wichtige Problem zurück, welches er vier Jahre zuvor im Brief an seinen Vater beschrieben hat: Die Weigerung des Quäkers vor den gesellschaftlich höher Gestellten seinen Hut zu ziehen:
‘wäre die Bestimmung irgendeiner äußerlichen Handlung entgegen der Überzeugung eines Menschen … wäre das eine Verfügung über sein Gewissen, dann wüsste ich nicht, wie man einen Quäker zwingen könnte, durch Ziehen des Huts oder höflichen Knicks der Obrigkeit den schuldigen Respekt zu zollen16.’
Nur unter Einschluss der Sichtweise, dass Locke zur Argumentation via Autorität greift, können wir dieser ansonsten rätselhaften Passage in den Tracts irgendwelchen Sinn abgewinnen. Selbst wenn man mit Locke übereinstimmt, dass Quäkern keinesfalls der Freiraum garantiert werden darf, rechtmäßig jeglichem religiös motivierten Verhalten nachzugehen, könnte man anfänglich durchaus dessentwegen verblüfft sein, warum Locke es ebenfalls ablehnt, den Quäkern einen Freiraum zu gewähren, innerhalb der Sphäre ihrer religiösen Huldigung einem religiös motivierten Verhalten nachzugehen. Die Angelegenheit wird erst klar, wie auch immer, wenn wir verstehen, dass Locke ansetzt in diesem Abschnitt nachzuweisen, worin die Implikation der Unterstellung besteht, so wie sie Bagshaw vornimmt, nämlich dass Gewissensfreiheit ebenso viel Handlungsfreiheit bezüglich ernsthafter religiöser Handlungen beinhaltet. Die Implikation bestünde (um beim konkreten Beispiel zu bleiben) darin, dass eine jegliche gesetzmäßige Restriktion gegenüber Handlungen, die der Quäker als von Natur aus religiös erachtet, ipso facto ein Übergriff auf seine Gewissensfreiheit wäre und dass der Quäker genau damit effektiv den Anspruch hätte, die Grenzen zwischen bürgerlicher und religiöser Sphäre selbst festzulegen.
Auf einer in dieser Weise verstandenen Gewissensfreiheit zu Beharren, würde es bei dieser Konstellation für eine jegliche Regierung verunmöglichen, irgendein Individuum gesetzlich zu Handlungen zu verpflichten, die dessen individuelles Gewissen verbietet und damit zu guter Letzt die souveräne Autorität der Regierung untergraben. Dieser Punkt spiegelt sich in Lockes ‘wenn-dann’ Überlegung im Abschnitt darüber wieder.
Definieren wir die Gewissensfreiheit so, wie sie Bagshaw definiert, dann wird es in der Tat unmöglich sein, den Quäker zu zwingen, wie Locke es nennt, einen ‘schuldigen Respekt zu zollen’. In der Tat wird es sogar unmöglich sein, ihn zu irgendeiner Handlung zu zwingen, die er nicht mit seinem Gewissen vereinbaren kann.
Demzufolge betrifft Locke’s Schlagabtausch mit Bagshaw die grundsätzliche Sorge um die Folgewirkungen für die öffentliche Ordnung, falls ernsthaftes Handeln unter die Pflicht ernsthafter Huldigung fällt. Ist ernsthaftes Handeln erst einmal dergestalt inbegriffen, wächst sich Religionsfreiheit zu einer außerhalb des Gesetzes stehenden Macht aus. Erfreut sich ein Bürger einer ‘Gewissensfreiheit’ in dem Sinne, dass unbedingt frei bei seinen Aktivitäten gemäß seiner religiösen Überzeugung handeln darf, dann setzt niemand seinen Rechten irgendwelche Grenzen außer er selbst. In diesem Fall untergräbt Religionsfreiheit als Macht außerhalb des Rechts die souveräne Autorität, die erfordert, dass entweder nur eine Person oder eine Versammlung von Personen die Grenzen menschlichen Handelns bestimmt. Denn bei Abwesenheit einer souveränen Autorität ist öffentliche Ordnung nicht möglich.
Zwei innwendige Schlüsselbedeutungen
Eine signifikante Implikation des Umstands, dass die Tracts eine Argumentation via Autorität herstellen, besteht darin, dass das Locke’s frühes Denken über religiöse Freiräume in ein deutlicher flackerndes und interessanteres Licht rückt, als wir sie in jenem betrachten könnten, würden wir ihnen die Argumentation via Einheitlichkeit zuschreiben. Das wird vollkommen klar, wenn wir über zwei verschiedene Gründe nachdenken, warum ein Individuum nicht darauf bestehen sollte, ein Recht auf umfassende Religionsfreiheit zurückzubehalten – eine jeder korrespondiert mit den zwei verschiedenen Lesarten der Tracts. Der erste Grund liegt darin, dass ein Vorbehaltsrecht andere provozieren würde, Gewalt anzuwenden.
Man könnte zum Beispiel annehmen, dass Mitglieder einer mächtigen religiösen Gruppe dazu neigen, Gewalt anzuwenden, wenn ein einzelner Abweichler öffentlich sein Abweichen von deren Religion erklärt. Der zweite Grund, warum ein Individuum nicht auf einem Vorbehaltsrecht bezüglich umfassender religiöser Freiheit beharren sollte, liegt darin, dass ein derartiges Recht jede Möglichkeit, einen allgemeinen, gesetzlichen Rahmen zur Regelung sozialer Interaktion mit anderen torpediert.
Nun, eben weil zwischen diesen beiden Gründen einen Unterschied besteht, sind sie relevant für Locke’s Besorgnis in den Tracts. Schreiben wir den ersten Grund Locke zu, dann fordert Locke im Endeffekt religiöse Abweichler dazu auf zu akzeptieren, dass sie aus Pflichtbewusstsein auf ihr Recht auf Huldigung in Übereinstimmung mit ihrem eigenen Gewissen verzichten müssen, um zu verhindern, dass mächtigere Gruppierungen den Frieden stören. Dies erschiene als unrechtmäßige Konzession seitens John Locke zu Gunsten der Vorurteile der Mächtigen und zu Lasten der Rechte der Ohnmächtigeren.
Andererseits, wenn wir es so auslegen, als würde Locke den zweiten Grund nutzen, dann erscheine sein Schlussfolgerung in den Tracts rechtmäßiger. Denn im Endeffekt würde Locke dann die Abweichler auffordern zu akzeptieren, sie eine Pflicht tragen, die ein jeder ander auch zu tragen hat. Nämlich die Rechte zu übertragen, die der Schaffung eines allgemeinen rechtlichen Rahmens im wegen, mit Hilfe dessen ihr aller gesellschaftliche Leben geregelt werden könnte.
Abgesehen davon, Locke’s Denken über Religionsfreiheit in einem stärker flackernden Licht zu präsentieren, besteht eine zweite Implikation der hier verteidigten Lesart darin, dass sie eine neue Perspektive auf die Lernkurve von Locke’s Denken über religiöse Freiräume nach den Tracts bietet. Diese neue Perspektive wird am Besten auf dem Weg der Kontrastierung eingeführt. Erwägen wir zunächst, wie die Lernkurve von Locke’s Denken aussähe, wenn wir annehmen, Locke verfolge die Argumentation via Uniformität in den Tracts.
Wäre es tatsächlich der Fall, dass Locke darauf abzielt, ein Recht auf religiöse Freiräume zu verneinen, weil es der religiösen Uniformität im Wege stünde, dann wäre die logische Frage, wie Locke gerade mal fünf Jahre später dazu kommt, ein Recht auf Ausübung abweichender Huldigungsformen zuzulassen, wie in einem kurzen Werk mit dem Titel „An Essay on Toleration (1667)17.“ Auf diese Frage wurden zwei Antworten gegeben. Erstens wurde vorgeschlagen, Locke habe zur Zeit des Essay on Toleration einen radikalen Bruch vollzogen, ein Bruch, der ausschließlich unter Berufung auf Beweise aus seiner Biographie erklärt werden kann.
Beispielsweise wurde angeführt, dass eine Reise nach Holland in 1665 Locke half, die Möglichkeit von Frieden in einem Umfeld religiöser Vielfalt zu beobachten, oder es wurde angeführt, dass Locke’s festes Engagement zu Diensten des liberalen Earl of Shaftesbury 1667 in unter Druck setzte, seine früheren Ansichten zu ändern18. Das Problem bei solchen biographischen Beweisen, wie auch immer, liegt in deren notwendigerweise ziemlich spekulativem Charakter (es sind eben Indizien, keine Beweise) und es dürfte ziemlich unzureichend anzusehen sein, damit einen derart radikalen Bruch zu erklären, wie er einen Autor in nur wenigen Jahren vom Befürworter eines Verfügungsrechts in religiösen Belangen in einen Verteidiger des Rechts auf Toleranz zu verwandeln19.
Im Lichte dieses Problems wurde eine zweite Möglichkeit verteidigt, gemäß welcher An Essay on Toleration tatsächlich darin fortfährt, die unterschwelligen Ziele der Tracts fortzuführen. Das Postulat lautet, Locke sei dazu gekommen, in den Essay das Recht auf Toleranz aus denselben Gründen zu verteidigen aus denen er (angenommener Weise) eine Politik verstärkter religiöser Einheitlichkeit in den Tracts verteidigt hatte.
Beiden, der älteren wie der jüngeren Sicht, liegt Lockes Festlegung auf Frieden um jeden Preis zu Grunde: Er verteidigt das Recht auf Toleranz in An Essay on Toleration, mit anderen Worten nur weil er jetzt glaubt, es wäre die Toleranz, eher als die Verfügung, die bürgerlichem Frieden am zuträglichsten sei.
Das Problem mit diesem zweiten Report über Locke’s Entwicklung liegt darin, dass es impliziert, sein möglicher Einschluss eines Rechts auf umfassende Religionsfreiheit sei ein ziemlich oberflächlicher Einschluss. Denn wäre Locke tatsächlich bereit, dieses Recht nur dann einzuschließen, wenn dessen abweichende Ausübung ungeeignet wäre, bürgerliche Unruhen zu entfachen, oder nur falls solch eine Inbegriffenheit auf anderen Wegen für Frieden sorgt, dann hat er keinesfalls die Art von Besorgnis, die man normalerweise mit jemandem verbindet, der Rechte ernst nimmt. Namentlich einen Belang die Interessen individueller Träger von Rechten gegen mächtigere Gruppen in der Gesellschaft zu schützen.
Diese Annahme über Locke’s fundamentale Sicht auf religiöse Freiräume ist fragwürdig, da sie sich nicht mit Locke’s Sprachgebrauch in seinen späteren Schriften versöhnen lässt, die seinerseits eine tiefe Besorgnis wegen der Interessen des individuellen religiösen Abweichlers offenbaren. In A Letter Concerning Toleration (1689) beispielsweise, verfasst Locke einen Abschnitt, der eine auffallende Ähnlichkeit zu Bagshaw’s ursprünglichen Argumenten für Religiöse Freiheit aufweist.
‘Irgendwelchen Leuten äußerliche Huldigungsformen vorzuschreiben … entgegen deren eigener Beurteilung, ist am Ende wie ihnen zu befehlen, Gott zu beleidigen. Was, wenn man erwägt, dass der Zweck aller Religion darin besteht, ihn zu besänftigen, und dass Freiheit essentiell notwendig für diesen Zweck ist, noch absurder erscheint, als man es mit Worten ausdrücken könnte’21.
Menschen hätten eine Pflicht gegenüber Gott jene Huldigung auszuführen, von der sie ihrem eigenen Urteil gemäß überzeugt sind, dass es die geeignete ist und Freiheit, so Locke, sei essentiell notwendig für diesen Zweck. Auf diesem Weg endete Locke schließlich an dem Punkt, das Recht auf Religionsfreiheit auf dem Interesse eines jeden Individuums zu begründen, eine ernsthafte Huldigung vornehmen zu dürfen.
Im Lichte des Faktums, dass Locke in seinem späteren Werk das Recht auf religiösen Freiraum Ernst nimmt, und tatsächlich dahin gelangt, es in eben der gleichen Besorgnis um ernsthafte religiöse Huldigung zu begründen, die seinerzeit Bagshaw zu dessen Pamphlet trieb, erwachsen uns gute Gründe nach alternativen Erklärungen der Entwicklung seiner Sicht der Religionsfreiheit zu forschen.
Lasst uns daher das Bild betrachten, welches entsteht sobald wir die Argumentation via Autorität den Tracts zuschreiben. Wenn wir davon ausgehen, dass Locke’s erste Gedanken zu dieser Frage sich um die Argumentation via Autorität drehten, dann, während seine späteren Schriften über Religionsfreiheit nach wie vor von einer Besorgnis seinerseits gesteuert werden, öffentliche Ordnung und die Interessen religiöser Abweichler auszubalancieren, müssen diese Schriften nicht notwendigerweise aufseiten Locke’s irgendeine Tendenz wiederspiegeln, das Recht auf religiöse Freiräume leidglich auf der ausschließlichen Basis gewähren oder unterdrücken zu wollen, ob deren Inanspruchnahme zum Zündfunken sektiererischer Gewalt werden könnte.
Es sieht viel eher danach aus, wenn man Locke die Argumentation via Autorität zuschreibt – und auf diesem Weg seine allererste Forderung als eine begreift, zu der er durch eine klar anarchische Konzeption religiöser Freiheit getrieben wurde – dass sein pausenloses Manövrieren sich als Suche nach einer alternativen Konzeption dieses Rechts darstellen lässt , die religiöse Vielfalt bringen könnte ohne Anarchie gleich mit auszuliefern.
Religiöse Freiheit ohne Anarchie
Locke könnte dahin gelangt sein, das Recht auf religiösen Freiraum bereits wenige Jahre nach den Tracts zu integrieren, in dem Essay, weil er zu dieser Zeit bereits einen Weg gefunden hatte, auf welchem ernsthafte, religiöse Handlungen unter einemsolchen Recht zugelassen werden könnten, ohne dass es gleich zu einem anarchischen Recht wurde.
Wir haben schon festellen können, wie Locke’s hauptsächlicher Einwand gegen Bagshaw darin besteht, dass Bagshaw’s Hereinnahme der ernsthaften Handlungen unter den Schirm des Rechts auf religiösen Freiraum dieses Recht zu einem anarchischen Recht ausufern lässt – der darin besteht, dass der Anwendungsbereich dieses Rechts in autoritärer Weise vom Inhaber allein festgelegt wird. Während Locke dieser speziellen Konzeption religiösen Freiraums widerspricht, scheint es wie auch immer, klar und deutlich, dass er in den Tracts längst Sympathie für zumindest irgendeine Konzeption religiöser Freiräume hegt.
Wenn wir den Abschnitt, in dem er sich über die Weigerung des Quäkers ärgert, das Ziehen des Huts zu verweigern, erneut betrachten, spiegelt sich das in seiner eröffnenden Aussage wieder:
‘Wir gewähren vollkommenes Einverständnis, dass mit dem Gewissen zartfühlend umzugehen ist und ihm nichts vorgeschrieben werden darf, wäre dann dennoch die Bestimmung irgend einer unbestimmten äußeren Handlung eine Verfügung aus das Gewissen und somit unrechtmäßig, Ich wüsste nicht wie ein Quäker gezwungen werden könnte, durch Ziehen des Huts oder höflichen Knicks der Obrigkeit den schuldigen Respekt zu zollen.’
Wenn religiöser Freiraum ernsthafte Handlungen nicht beinhalten kann, so folgert Locke weiter, dann bleibt uns nichts, als religiöse Freiheit als ausschließlich eine Freiheit zur Beurteilung sein kann. Es scheint plausibel Locke’s eröffnende Aussage in der obigen Passage so zu betrachten. Dass sie ein spürbares Bedauern seinerseits über dieses Ergebnis reflektiert.
Zur Zeit des Essay, ein paar Jahre später, hatte Locke einen weg gefunden, auf dem er in der Lage war, religiöse Handlungen unter das Dach des Rechts religiöser Freiheit aufzunehmen, ohne dieses recht zu einem anarchischen Recht ausufern zu lassen. Dieser Wendepunkt in Locke’s Denken nach dem Verfassen der Tracts und vor An Essay on Toleration ereignet sich in seinen 1663 – 1664 verfassten Essays on the Law of Nature, in denen er sein politisches Denken über das Naturrecht neu verfasst. Durch Berufung auf das Naturrecht als den Zügeln menschlichen Handelns, ist es Locke möglich, seine Argumentation in den Tracts auf zwei verschiedenen Pfaden weiter zu entwickeln.
Erstens ist er in der Lage darauf zu Bauen, dass keine Person ernsthaft glauben kann, die Ausübung ihrer Religion könnte Handlungen einschließen, die das Naturrecht verletzen, weil nämlich das Naturrecht etwas ist, was alle Personen allein mit den Mitteln ihrer natürlichen Vernunft verstehen können23.
Dergestalt ist Locke in der Lage in seinem An Essay on Toleration darauf zu bestehen, dass religiöser Freiraum die Freiheit zur Handlung in Sachen Huldigung einschließt, ebenso wie die Freiheit der Beurteilung. An Essay on Toleration setzt diesen Punkt ziemlich energisch: ‘rein spekulative Meinungen und göttliche Huldigung’ – eine Kategorie, die Handlungen ebenso umfasst wie Beurteilungen – bedarf ‘eines absoluten und universellen Rechts auf Toleranz’24.
Locke ist jetzt in der Lage, Handlungen in das Recht zur Ausübung ernsthafter religiöser Huldigung mit aufzunehmen, weil er davon ausgehen kann, dass ernsthafte religiöse Huldigung notwendigerweise mit dem Naturrecht vereinbar ist.
Und es gibt einen zweiten Pfad auf dem die Berufung aus das Naturrecht Locke in die Lage versetzt, seine Argumentation aus den Tracts zu verbessern: Es ermöglicht ihm, der Ausübung politischer Autorität Grenzen zu setzen. Wenn nämlich politische Macht dazu existiert, den Individuen dabei zu helfen, ihre im Naturrecht begründeten Pflichten zu erfüllen, dann besteht ihre Autorität ausschließlich anhängig davon, wie wirksam sie diesen Zweck erfüllt. Politische Autorität kann in diesem Fall nicht in der Form von Souveränität auftreten: Sie kann keine unbedingte Autorität sein.
Wir können diese Argumentationslinie als am stärksten eingeführt in seinem berühmten Brief erkennen. In einem Abschnitt, in welchem Locke einen Fall diskutiert, in dem die Obrigkeit ein Gesetz verfügt, das ‘Dine betrifft, die nicht innerhalb Der Rabatte der Autorität der Obrigkeit’ liegen, so stellt er die rhetorische Frage, ‘was wären, wenn die Obrigkeit glaubte, ein solches Gesetz wie dieses wäre für das öffentliche wohlgeschaffen?’
Er antwortet: Genau wie die private Beurteilung irgendeiner einzelnen Person, falls irrtümlich, diese nicht von der Verpflichtung des Gesetzes ausnimmt, so kann die private Beurteilung der Obrigkeit, falls ich das so nennen darf, dieser keinerlei weiteres Recht gewähren, Gesetze über die Bürger zu verfügen25.
Diese Antwort erweckt den Eindruck dass zur Zeit des Briefes Souveränität vollkommen aus dem Gesamtbild von Lockes politischem Denken herausgefallen war. Mittlerweile denkt Locke, dass die Legitimität allen Handelns – Handlungen betreffend, die durch abweichendes Gewissen ebenso angeordnet werden wie durch die Obrigkeit – ausschließlich an den Begrenzungen und Richtlinien des Naturrechts zu messen sind.
Kein Mensch verschafft sich ein Recht zu verfügen auf Grund der Autorität seiner eigenen, privaten Beurteilung allein. Mit anderen Worten: es existieren keine souveränen Personen. Die Lernkurve bei Locke’s Denken bezüglich religiösen Freiraums ist eine, in der er nach einer Vereinbarung sucht, und vielleicht in der Berufung auf das Naturrecht findet, die die widerstreitenden Forderungen zwischen religiösem Freiraum und politischer Autorität versöhnt, die ihm weitaus mehr zusagt, philosophisch wie moralisch, als die Vereinbarung, die er noch in den Tracts vorlegen konnte.
Indem er seine politische Philosophie über das Naturrecht neu verfasst hat, ist Locke in der Lage den Schluss zu ziehen, dass die Forderungen nach ‘religiösem Freiraum’ und ‘politischer Autorität’, ordentlich verstanden, stets in Harmonie bestehen. Politische Autorität, die zu dem Zweck besteht, Handlungen zu verhindern, die das Naturrecht verletzen, muss niemals eine Handlung regulieren, die durch das Recht auf religiösen Freiraum geschützt wird, weil dieses Recht niemals irgendeine Handlung beinhaltet, die das Naturrecht verletzt26.
Schlussfolgerung
Dort wo Locke in dem Brief endet, der Ort an dem er darauf besteht, dass keine Person ein Recht erringen könne, auf Grund der Autorität seiner privaten Beurteilung allein zu handeln, bringt uns direkt zurück, auf gut 30 Jahre früher, zu dem jungen Locke in Westminster Hall. Es mag so erscheinen, als würde Locke sich in dem Brief am Ende selbst in den Schwanz beißen, wo es doch so aussieht: Sein späteres Werk erscheint als Hommage an die Idee, die er als junger Mann zum Teufel gewünscht hat.
Falls Locke in seinem späteren Werk überzeugt ist, dass keine Person souverän ist, falls er glaubt, dass jedes Individuum einem jeden anderen darin gleicht steht, eine allerletzte ultimative Autorität zurückzubehalten, dann, in einem fundamentalen Sinn, scheint es als wäre er überzeugt, dass es keine politisch übergeordneten gäbe, vor denen Quäker den Hut zu ziehen hätten.
Tatsächlich aber hat sich Locke überhaupt nicht in den Schwanz gebissen. Als junger Mann missbilligte Locke das Verhalten der Quäker, nicht weil er gegen politische Gleichheit gewesen wäre, sondern weil er gegen die Anarchie des religiösen Gewissens war. Darin besteht eine Konstante in seinem Denken über die religiösen Freiräume, die sein gesamtes Leben durchzieht. Locke hat sich niemals von seiner Feindschaft einem jeden Individuum gegenüber verabschiedet, welches sich anmaßte, seine vermeintliche eigene Autorität zu Handeln letztendlich von einem Bereich der eigenen Seele abzuleiten, der anderen nicht zugänglich war.
Im Jahre 1700 vermochte er seine Sicht religiöse ‘Enthusiasten’ die ihn zu diesem Gefühl, welches durch die Quäker, die er noch 1656 vor Gericht beobachtet hatte, noch verwirrt und verstört wurde, geführt hatten, dergestalt Ausdruck zu verleihen: Für welche widerwärtige Handlung auch immer sie in sich selbst eine starke Neigung finden, sie zu vollziehen, von diesem Impuls wird angenommen, er sei ein Ruf oder eine Anweisung direkt aus dem Himmel, und muss befolgt werden… Das will ich für wahren Enthusiasmus halten, der, weder auf Vernunft noch Offenbarung gegründet, aber aus den Schlüssen eine heißen und anmaßenden Gehirns aufsteigend, dennoch wirkt er, wo er erstmals Fuß fasst, mächtiger auf die Überzeugungen und Handlungen von Menschen…und befreit von allen Beschränkungen durch die Vernunft, oder Hemmungen durch Nachdenklichkeit, wir er zur Höh göttlicher Autorität erhoben, in Übereinstimmung mit unser eigen Gemüt und Neigung27.
Man vermag keinerlei Bigotterie in einer solchen Passage zu entdecken, sondern Müdigkeit. Die Sichtweise auf der Basis, auf der die Quäker sich weigerten, ihre Hüte zu ziehen, mag die egalitäre gewesen sein, dass alle unter Christus gleich sind. Doch deren Insistieren, dass diese Sicht ihre Autorität aus ihren Gewissen beziehe, war für Locke ultimativ anarchisch.
Ich für meinen Teil hätte ihn, da er auf die Bibel vertraut hat, auf dieses Zitat aufmerksam gemacht:
Matthäus 20,capitulum 22,21
reddite ergo quae sunt Caesaris Caesari et quae sunt Dei Deo
Obwohl auch das widersprüchlich ausgelegt werden kann
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Ein Gedanke zu „John Lockes Two Tracts und das anarchische Potential religiösen Gewissens“
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